Tagung „Kurorte in der Region“ am 22./23. September 2022

Kurorte in der Region: Internationale Tagung der Schaumburger Landschaft in Bad Nenndorf präsentiert neue Forschungen zur 300-jährigen Gesellschafts- und Kulturgeschichte der Kurbäder
Am 22./23. September kamen Historikerinnen und Historiker aus Deutschland, Großbritannien, Österreich und Schweden in der Wandelhalle in Bad Nenndorf zusammen, um ihre Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte der Kurorte vorzustellen. Dabei ging es auch um die Bedeutung von Kurorten als Wirtschaftsfaktoren, um Gesundheitspolitik und um mediale Repräsentationen. Die Tagung hatte die Schaumburger Landschaft in Kooperation mit dem LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, der Leibniz Universität Hannover und dem Niedersächsischen Landesarchiv Abteilung Bückeburg organisiert.
In ihrer Begrüßung betonte die Geschäftsführerin der Schaumburger Landschaft, PD Dr. Lu Seegers, dass Kurorte und Bäder seit dem 18. Jahrhundert landschaftsprägend sind. Mit ihrer spezifischen Lage und Architektur verbinden sie Natur und Kultur und stehen für Urbanität und Repräsentativität im ländlichen Raum. Insofern stellten Kurorte zu allen Zeiten einen maßgeblichen Wirtschaftsfaktor in ihren Regionen dar. Allerdings seien auch gesellschaftliche Vorstellungen von Gesundheit und systemspezifische Gesundheitspolitiken für die Situation der Kurorte existentiell. Die Kurorte mussten sich insbesondere im 20. Jahrhundert immer wieder neu erfinden und tun dies bis heute im Spannungsfeld von Rehabilitation und Prävention, Wellness und Tourismus. Damit gingen systemspezifische soziale und gesellschaftliche Veränderungen einher, die sich nicht zuletzt auf die medialen Repräsentationen der Kurorte auswirkten in Deutschland und darüber hinaus. Der Bürgermeister der Samtgemeinde Nenndorf, Mike Schmidt, betonte in seinem Grußwort, dass Bad Nenndorf nicht nur neben Bad Pyrmont Staatsbad in Niedersachsen sei, sondern als einziger Kurort auch dreifach prädikatisiert als Mineral-, Moorheil- und Thermalheilbad. Gemeinsam mit verschiedenen Akteuren arbeite man intensiv daran, die Zukunft in Bad Nenndorf ideenreich und attraktiv zu gestalten.
In ihrer Einführung betonten der Direktor des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte Prof. Malte Thießen und der wissenschaftliche Mitarbeiter Dr. Matthias Frese, dass Kurorte nicht nur für Glanz und Glamour stehen, sondern hier Menschen aus ganz verschiedenen sozialen Schichten zusammentrafen. Inklusionen, aber auch Exklusionen seien daher ein wichtiges Thema, wie etwa der Bäderantisemitismus während der NS-Zeit. Kurorte stellen generell eine Arena für gesellschaftliche und systemspezifische Aushandlungs- und Veränderungsprozesse dar. In sechs Sektionen näherten sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei der auch von vielen Geschichtsinteressierten besuchten Tagung den Kurorten als facettenreichen Kristallisationspunkten.
In der ersten Sektion zum Thema Gesundheitsvorstellungen zeigte Privatdozent Dr. Heiko Stoff von der MHH, wie schwierig es für Interessierte noch im 19. Jahrhundert war, einen passenden Kurort für sich zu finden. Zu komplex waren die Beschreibungen über die Wirkungsweisen der Heilquellen und -methoden. Privatdozent Dr. Winfried Süß vom renommierten Zentrum für Zeithistorische Forschungen in Potsdam stellte die Gesundheitspolitiken und die Rolle der Kurorte dabei für die Zeit des Nationalsozialismus, der DDR und der Bundesrepublik systematisch dar. Dabei verwies er vor allem auf die Wiederherstellung der Arbeitskraft, die in allen drei Systemen allerdings unter ganz unterschiedlichen politischen Vorzeichen kennzeichnend war. In der Bundesrepublik führte insbesondere die Rentenreform 1957 zu einem deutlichen Anstieg der Sozialkuren, während die Gesundheitsreform des Jahres 1996 das „Kuren“ deutlich erschwerte. Dr. Anna Michaelis von der Universität Duisburg wiederum zeichnete die Popularisierung der Wellness-Bewegung seit den 1970er Jahren nach, die bei der touristischen Werbung der Kurorte seit den 2000er Jahren eine zentrale Rolle spielt.
Die zweite Sektion behandelte unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen in Kurorten. Der Leiter des Archivs in Bückeburg, Dr. Stefan Brüdermann, stellte das Grafenhaus Schaumburg-Lippe als Kurortbesucher und -betreiber vor. Dabei zeigte er u.a., dass Albrecht Wolfgang nicht nur selbst gern kurte, sondern auch einen Brunnen im Schlossgarten Stadthagen fördern ließ, der sich allerdings wegen des nahe gelegenen Bad Pyrmont nicht durchsetzen konnte. Als erfolgreicher sollte sich die Schwefelquelle in Bad Eilsen erweisen, die Fürstin Juliane Ende des 18. Jahrhunderts förderte. Seine Hochzeit hatte Bad Eilsen nach dem Ersten Weltkrieg wie PD Dr. Lu Seegers in ihrem Vortrag zeigte. Grund dafür war der von Fürst Adolf II. errichtete Fürstenhotel, ein Luxushotel, das höchsten Ansprüchen genügte. Außerdem warb die Kurverwaltung deutschlandweit intensiv für den Kurort und konnte den international vernetzten Augenarzt Maximilian Graf von Wiser anwerben. Hochadel und Prominente wie Gerhart Hauptmann und Hermann Hesse hielten sich ab Ende der 1920er Jahre deshalb regelmäßig in Bad Eilsen auf. Fred Kaspar wiederum zeigte, dass es nicht nur Adel und Bürgerliche waren, die die Kurorte frequentierten, sondern häufig auch bäuerliche Schichten, die entweder in so genannten Bauernbädern oder aber abseits in den bekannten Kurorten „kurten“.
In der dritten Sektion wurden Bevölkerungsgruppen behandelt, die gewissermaßen auf der „Hinterbühne“ der Kurorte lebten und arbeiteten. Melanie Mehring, Leiterin des Schlossmuseums Pyrmont, zeigte anhand eines Filmbeispiels, wie hart die Arbeit hinter den Kulissen des Kurbetriebs war, etwa bei der Erstellung von Schlammbädern. Dr. David Templin von der Universität Osnabrück analysierte, wie Migrantinnen und Migranten seit den 1960er Jahren in Bad Pyrmont angeworben wurden. Es waren vor allem Frauen, die in den Kurorten als Krankenschwestern, Servier- oder Küchenhilfen arbeiteten. Dr. Jens Gründler und Jonathan Schlunck vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte widmeten sich dem komplexen Thema der Kinderkuren. Anhand des Kurorts Bad Waldliesborn zeigen sie die Bedeutung der Kinderkuren als Wirtschaftsfaktoren, die zugleich von den Kindern ambivalent erfahren wurden.
Den öffentlichen Abendvortrag hielt der Schaumburger und Chefredakteur des Magazins ZEITGeschichte, der die Geschichte des Wincklerbads als britischem Verhörzentrum facettenreich kontextualisierte. Die Briten selbst hatten das Verhörzentrum 1947 geschlossen, nachdem interne Untersuchungen psychische und physische Misshandlungen der Inhaftierten ergeben hatten. Den vermeintlichen „Trauermärschen“ von Neonazis ab 2006 stellte sich die Initiative „Bad Nenndorf ist bunt“ ebenso kreativ wie erfolgreich entgegen.
Am Freitagmorgen standen die medialen Repräsentationen von Kurorten im Zentrum. Prof. Astrid Köhler von der Queen Mary University London führte in einem Parforceritt durch die Darstellung von Kurorten in der Prosaliteratur seit dem 18. Jahrhundert. „Kurschatten, Hochstapler und Glücksspiele“ waren hier häufige Motive. Im 20. Jahrhundert avancierte der Kurorte-Roman dann zum Reflektionsraum für Erinnerungskulturen. Dr. Christoph Classen vom Zentrum für Zeithistorische Forschungen zeigte anhand von zwei westdeutschen Fernsehserien aus den 1970er Jahren, dass Kurorte Handlungsorte waren, an denen Zeitregime und Leistungsprinzipien gewissermaßen außer Kraft gesetzt waren. Auch hier spielte der „Kurschatten“ als Motiv durchaus eine Rolle.
In der Sektion fünf ging es um die regionale und interkommunale Bedeutung von Kurorten. Dr. Eva-Maria Gajek von der Universität Gießen verwies darauf, dass Kurorte wie Baden-Baden stets auch versuchten, ihr zahlungskräftiges Klientel durch eine attraktive Ansiedlungspolitik fest zu binden. Dr. Matthias Frese und Prof. Martin Knoll von der Universität Salzburg zeigten in ihren Vorträgen, wie stark sich Kurorte im 20. Jahrhundert wandeln mussten, um touristisch attraktiv zu bleiben.
Die letzte Sektion widmete sich europäischen Perspektiven. Prof. Wiebke Kolbe (Universität Lund) verwies darauf, dass die englischen Kurorte stark sozial segregiert waren und mit den kontinentalen Kurorten nicht konkurrieren konnten. Gleiches galt für die schwedischen Kurorte, die allerdings das Prinzip der Egalität hochhielten. Dr. Benedikt Tondera von der Universität Osnabrück wiederum zeigte, dass sowjetische Kurorte „contested spaces“ waren, zumal sie häufig an der Schwarzmeerküste, also in nicht-russischen Gebieten lagen.
Die Tagung zeigte, wie interessant und ergiebig es ist, sich mit der Geschichte der Kurorte sowohl im europäischen, als auch im deutschen und regionalen Kontext zu beschäftigen. Bad Nenndorf war dazu ein idealer Tagungsort.

Die Geschäftsführerin, Priv.-Doz. Dr. Lu Seegers, begrüßt die Teilnehmenden.
